Ein Jahr. Ein Jahr hatte ich mir vorgenommen. Ein Jahr, in dem ich ganz bewusst Single sein wollte, ohne doppelten Boden, ohne Profil in irgendeiner Dating-Plattform, ohne die Hintertür zu der Fantasie, dass eines Tages dieser eine, wunderbare Mann kommen würde, mit dem das Leben plötzlich doppelt so viel Spaß machen würde, wie vorher.
Was vielleicht wie eine witzige Idee einer reizüberfluteten Mitdreißigerin klingt, hat einen ernsten Hintergrund: ich bin liebes- und beziehungsabhängig, denn auch aus Beziehungen kann eine Sucht werden, wie ich in den Artikeln „Wenn aus Liebe Abhängigkeit wird“ und „Beziehungsabhängigkeit überwinden“ ausführlich beschrieben habe.
Ich startete motiviert in mein Experiment, ich rief eine dazu passende Selbstliebe-Challenge auf Instagram ins Leben, die uns das ganze Jahr begleiten soll, ich las entsprechende Literatur und besuchte meine Selbsthilfegruppen.
Trotzdem waren die ersten Wochen hart. Speziell in der Lebensmitte, in der gefühlt einfach alle um mich herum heiraten, zusammenziehen, erste oder zweite oder dritte Kinder zeugen oder gebären, fühlte ich mich wie ein Loser.
Da war ich, 34, kinderlos, Single und ab und zu ziemlich einsam. Aber ich spürte eben auch, was für eine gewaltige Chance das für mich war: mich wirklich von dem Gefühl zu befreien, einen anderen Menschen zu brauchen, um mich dauerhaft gut zu fühlen.
Dabei geht es nicht darum, für immer alleine zu sein, das Ziel der Genesung von Liebes- und Beziehungsabhängigkeit ist eine gesunde Liebesbeziehung, die darauf beruht, sich aneinander zu erfreuen, nicht, sich gegenseitig die Liebe zu geben, die man sich selbst nicht oder nicht ausreichend geben kann.
Aber nach einigen Wochen, in denen ich schlimmste Craving-Momente durchlebte, in denen ich wirklich glaubte, ohne Bestätigung von außen durchzudrehen, nachdem ich mich durch einsame Abende, Minderwertigkeitsgefühle und Zukunftsängste gearbeitet hatte, ging mir ein Licht auf:
Die ganze Zeit über hatte ich innerlich, in irgendeinem Winkel meines Herzens, darauf gehofft, dass dieser Zustand, die volle Verantwortung für mein eigenes Leben und Wohlbefinden in den eigenen Händen zu halten, vorübergehend sein würde.
Ich war ja bereit, eine Zeit lang darauf zu verzichten, dass irgendwer mir diese Last abnahm, aber dauerhaft? Darauf war ich nicht vorbereitet.
Aber plötzlich begriff ich: wenn ich wirklich von der Abhängigkeit genesen wollte, würde ich die Vorstellung, dass ein Partner die Sahnekirsche meines Lebens ist, für immer aufgeben müssen. Sogar dann, wenn ich mich eines Tages wieder in einer Beziehung befinden sollte – selbst, ja gerade sogar dann, würde die Verantwortung für mein Glück, für meine Zufriedenheit und meine Erfüllung zu einhundert fucking Prozent in meinen eigenen Händen liegen.
Diese Erkenntnis war ein Schlag in die Magengrube. In eine Magengrube, die seit frühester Kindheit durch Märchen, Filme und Patrick Swayze in der Annahme gestärkt worden war, dass der richtige Mann mir den Sommer meines Lebens bescheren würde und das im besten Fall alle Jahre wieder.
Dabei liegt die Verantwortung dafür, dass wir der Mensch sind, mit dem wir am liebsten Zeit verbringen, dass wir uns innerlich reich und vollständig fühlen, immer in unserer Hand. Egal, ob wir das in unserer Fixierung auf eine gewünschte Partnerschaft nun wahrhaben wollen oder nicht. Zu keinem Zeitpunkt liegt das Glück unseres Lebens in den Händen eines anderen Menschen.
Die gesellschaftliche Prägung, die ganz besonders den Frauen immer wieder erzählt, dass erst eine Beziehung und/oder Familie sie vollständig wertvoll macht – Stichwort „alte Jungfer“ oder das Jennifer-Aniston-Phänomen – ist an dieser Stelle wirklich die Eintrittskarte ins Unglück. Selbstverständlich sind Liebesbeziehungen eine wunderbare Sache. EINE wunderbare Sache. Nicht DIE wunderbarste Sache, ohne die unser Leben nicht gelingt.
Für den Tag, an dem ich mich stabil genug fühle, wieder ein Date zu vereinbaren, habe ich sogenanntes „Sober Dating“ für mich im Sinn.
„Sober Dating“, das wird für mich bedeuten, einen potentiellen Partner zunächst einige Wochen lang als Menschen kennenzulernen. Das wird für mich bedeuten, auf Textnachrichten-Exzesse zu verzichten, weil gerade Geschriebenes für mich ein unwahrscheinlich starker Trigger ist. „Sober Dating“ wird bedeuten, dass es ein Date pro Woche gibt. Nicht diese endlos-Dates, die über Tage gehen und in denen ich Zeit mit einem mir noch völlig Unbekannten verbringe, auf den ich alle meine abhängigen Sehnsüchte projiziere und dabei alles vernachlässige, was für gewöhnlich wichtig in meinem Leben ist.
Statt Hals über Kopf in eine Fantasie zu rutschen, nehme ich mir Zeit, die Realität zu entdecken. Und kann dann in aller Ruhe entscheiden, ob dieser Mensch gut für mich ist oder nicht.
Und dieses „Sober Dating“ veranschaulicht wunderbar den Unterschied zwischen dem, was Bücher, Filme und Musik uns seit Jahrzehnten als Liebe verkaufen, in Wahrheit aber ungesunde Abhängigkeit ist, und dem, was Liebe eigentlich sein könnte.
Liebe als ein Gefühl, das gibt, Abhängigkeit als ein Gefühl, das haben und besitzen will. Liebe als etwas, das dazu führt, dass wir den anderen sein lassen und uns an ihm und seiner Einzigartigkeit erfreuen können, immer wieder neugierig, immer wieder neu. Abhängigkeit als etwas, das den anderen kontrollieren will, das uns mit guten Gefühlen versorgen soll, ja muss, weil wir sie selbst nicht erzeugen können.
Wenn sich Männer und Frauen in Filmen, in Liedtexten und Büchern verzehren, dann, so scheint es, ist die Liebe umso größer, desto schmachtender, desto unerfüllter die Sehnsucht. Bullshit. „Ich kann ohne dich nicht leben und nicht glücklich sein“ ist kein Vokabular der Liebe, es sind Worte, die aus Abhängigkeit entstehen. Liebe selbst schert sich vermutlich gar nicht so viel um Beziehungen. Sie will geschenkt werden, sie ist ein Überfluss, sie ist ein Geben-wollen. Sie verschenkt überströmendes Glück weiter, indem sie es mit anderen teilt.
Gehen wir nach dieser Definition, können wir das Genre Liebesfilm so gut wie abschaffen, beziehungsweise neu befüllen. Mir sind kaum Geschichten bekannt, die so von Liebe erzählen. Tipps für derlei Bücher und Filme sind in den Kommentaren unter diesem Beitrag gerne gesehen!
Nein, ein anderer Mensch ist es nicht, der das ultimative Glück in uns hineinzaubert. Das ist nicht die Aufgabe eines anderen Menschen in deinem Leben. Sich gemeinsam am Leben zu erfreuen, das kommt der Sache schon näher.
Die Verliebtheit wird in Zukunft nicht mehr die Sonderstellung einnehmen, sie wird nicht mehr als Singularität über allen anderen Dingen stehen – auch, weil ich gelernt habe, tiefe Freude über andere Dinge zu empfinden.
Sie reiht sich ein in die unbändige Lebendigkeit und Seligkeit, die ich mittlerweile, in meinem nüchternen Leben, über Zeit in der Natur empfinden kann, über Zeit mit meinen Katzen, über Zeit mit meiner Familie, mit Freunden oder mit Musik.
Ein Teil von mir findet das traurig. Denn das bedeutet, dass niemand mehr „meine Welt aus den Angeln heben“ wird, dass eine Beziehung kein alles wegfegender Rausch mehr sein wird.
Aber dann stelle ich fest: das ist ja auch gar nicht mehr nötig. Mein Leben ist gut, dort, wo es ist. Ich bin gut, dort, wo ich bin. Eine Beziehung ist nicht mehr die Hauptattraktion in meinem Leben. Das Leben selbst ist es.
Liebe Kea,
so wundervolle Worte, ich glaube, du hast es goldrichtig erfasst. Das alles was du schreibst, fühle ich auch, ist ebenfalls ein großes Thema von mir. Zwar bin ich inzwischen schon seit über 7 Jahren Single (nach 7 Jahren feste Beziehung), nur seltene Affären hin und da, ich komme mit dem „allein leben“ insgesamt eigentlich klar, so mit der Wechselwirkung zwischen gern allein sein und sich wirklich mal einsam zu fühlen (mit diesen typischen Gedanken: ich bin 36, alle um mich herum heiraten und kriegen Kinder…). Was mich in dieser Zeit unterschwellig bis heute immer noch begleitet, dass irgendwo in mir etwas nicht stimmt, ist tatsächlich diese „Hintertür zu der Fantasie, dass eines Tages dieser eine, wunderbare Mann kommen würde, mit dem das Leben plötzlich doppelt so viel Spaß machen würde, wie vorher.“ und JA, mir ist in letzter Zeit auch klarer geworden, dass DAS aufzugeben eine Option sein könnte, um sich endlich von dieser Abhängigkeit zu heilen, auch wenn das erstmal echt schmerzt. Allein diesen Hintertür-Gedanken zu haben, scheint für mich schon eine Abhängigkeit zu sein, auch wenn man wie ich nicht von Beziehung zu Beziehung hangelt. Auch andere Dinge, bei denen wir glauben, mit denen es uns in Zukunft besser gehe, wir denken immerzu, dies und das brauche ich erst noch für mein zukünftiges Glück, so weiter und so fort. Anstatt JETZT zu leben, anstatt zu sehen, dass die Fülle des Leben im JETZT existiert und wir so gut sind wie wir sind. Aber darüber hast du ganz sicher an anderer Stelle auch schon geschrieben. ;-). „Zu keinem Zeitpunkt liegt das Glück unseres Lebens in den Händen eines anderen Menschen.“ das ist das Beste was ich seit langem gehört habe und auch was du über die Liebe schreibst, das sehe ich ganz genauso, es ist so klar und so paradox, dass es zu leicht mit „besitzen“ verwechselt wird. Ich mache sehr gerne mit dir mit und bin gespannt, was dieses Jahr mit uns passiert, wir schaffen das! Bin so froh, dass es andere Menschen gibt, die ähnliches empfinden und ich damit nicht alleine bin. Alles Liebe zu dir, Lea
3 Comments
Liebe Kea,
guter, prägnanter und immens wichtiger Artikel, danke!
Aber: ich schätze, Du wirst dennoch wenig tun könen, Dein Hirn am Ausschütten der Rausch-erzeugenden biochemischen Stoffe/Coctails zu hindern, solltest Du Dich wieder verlieben. Aber gut, dass Du diesen Rausch nicht mehr um seiner selbst willen abzufeiern gedenkst!
Dennoch (!) solltest Du Dir erlauben, ihn zu genießen – blockiere Dich da bitte nicht, indem Du diesen Zusammenhang befürchtungsgerichtet zB mit Alkoholismus vergleichst, von wegen „jeder Tropfen würde neuerlich die Hölle ausbrechen lassen“ o.Ä. …
Liebe Grüße,
moe
Hallo Moe,
ich freue mich, dass dir der Artikel gefällt!
Natürlich kann man gegen die biochemischen Reaktionen im Gehirn selbst nichts machen und das muss man auch nicht, bzw. möchte ich das auch gar nicht und ich hoffe, das liest sich so auch nicht aus dem Beitrag heraus.
Es geht ja nicht darum, die Verliebtheit zu beseitigen, sondern das Ausagieren süchtiger Verhaltensweisen :) Und darum, durch persönliche Entwicklung und Nachreifung eine ganz andere und gesündere Basis für solche Gefühle zu schaffen – in meine Artikel „Wenn aus Liebe Abhängigkeit wird“ schreibe ich mehr über die frühkindlichen Erfahrungen, die dazu führen können, dass sich später aus einer eigentlich so schönen Sache wie der Verliebtheit eine Suchterkrankung entwickeln kann. Ich bin sicher, dass es, wenn dieses Thema angeschaut und geheilt wird, auch wieder möglich ist, das Verliebtsein als eine von vielen schönen Erfahrungen des Lebens zu genießen :)
Viele Grüße,
Kea