Wir haben es gerne geordnet. Unsere ganze Welt schreit nach Greifbarem, Konkretem, nach Dingen, die wir akkurat einsortieren können, Schublade für Schublade. Oft schrecken wir zurück, wenn das Echolot in unserem Bauch kein eindeutiges Bild der Lage generiert, wenn Liebe ozeanisch tief wird zum Beispiel, und wir den Grund nicht mehr erkennen können. Oder wenn uns für eine Entscheidung schlicht die Erfahrung fehlt und wir einen Kopfsprung in unbekannte Gewässer wagen sollen – dann malt unser Verstand große Fragezeichen an unsere innere Schiefertafel. Dabei ist das Leben per se eine unsichere Angelegenheit. Osho sagt:
Angst ist immer die Angst vor dem Unbekannten. Angst heißt immer Angst vor dem Tod. Angst bedeutet immer die Angst verlorenzugehen, aber wenn du wirklich lebendig sein willst, musst du akzeptieren, dass du verloren gehen kannst. Du musst die Unsicherheit des Unbekannten akzeptieren. Das Unbehagen und die Unbequemlichkeit des Ungewohnten, des Fremden.
Osho, Yoga: The Science of Living, Talk #4
Deshalb widmet sich dieser Text einer Sache, die wir nicht mögen, die uns aber befreien kann. Eine Ode an die Unsicherheit, die Vieldeutigkeit, die für mich näher dran ist an der Essenz des Lebens und unseres Seins als alle vermeintlichen Vorhersehbarkeiten zusammen.
Alles begann mit einem ziemlich verrückten Ein-Tages-Trip nach Berlin. Denn es zieht mich zurück in die Hauptstadt. Nur anderthalb Semester nach meinem Plan, meine Berliner Zweitwohnung zugunsten eines Studiums aufzugeben, schmeiße ich schon wieder alles um und drücke auf rewind. Das tut mir mittlerweile gar nicht mehr weh – ich finde es verdammt okay, in Sackgassen zu landen, festzustellen, dass das, was ich so dringend wollte, sich doch nicht als das entpuppt, was mich dauerhaft zum Leuchten bringt und neu zu starten. Das gilt für alle Situationen, in denen ich eindeutig merke, was ich will und was nicht. Aber die Herausforderungen im Leben, die nicht in meiner Hand liegen, bei denen ich nicht selbst auf den Buzzer drücken und entscheiden kann, ja, in denen es vielleicht nicht einmal ein eindeutiges richtiger oder falsch gibt – that’s the real shit! Und diesem Gefühl begegnete ich auf der Strecke Wiesbaden-Berlin, eingeklemmt zwischen zwei Geschäftsterminen, auf meinem spontanen Eintages-Ausflug zu einer Wohnungsbesichtigung mit viel Potential. 570 km hin und 570 km wieder zurück. Ein bißchen crazy? Irgendwie schon. Aber wenn wir nicht ab und zu etwas Einsatz auf den Tisch der Möglichkeiten schmeißen, was bekommen wir dann? Ich jedenfalls war dann mal auf nen Kaffee in Berlin.
Ich wusste nicht, ob mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde, aber ich wusste zumindest dass ich der Möglichkeit zu diesem „alles-auf-Anfang“ Tür und Tor geöffnet hatte. Für mich ein echtes Novum! Wie oft hatte ich in der Vergangenheit prophylaktisch als gescheitert zementiert, was mir unwahrscheinlich erschien! Mir waren die Sicherheit und mein gewohntes Übel lieber, als den Zustand in der flackernden Zone zwischen Licht und Dunkelheit auszuhalten. Die Stroboskopblitze der Ungewissheit waren mir immer zu heikel, zu riskant. Lieber war ich sicher enttäuscht, als unsicher hoffend.
Wie viele Bewerbungen ich nicht abgeschickt, wieviele Idee nicht verfolgt, wieviele Veranstaltungen ich nicht besucht habe! Zu gefährlich erschien mir dieser Zustand des Nicht-Wissens, in dem sich vage ein neues Leben ankündigt, durch eine Tür, die nur eine handbreit geöffnet ist. Würde das Schicksal sie mit einem heftigen Ruck wieder schließen und mir auf die Fingerkuppen hauen? Derlei Nervenkitzel habe ich nie geschätzt, ich hatte seit jeher eine Abneigung gegen Geisterbahnen und Gruselfilme, selbst beim Topfschlagen auf Kindergeburtstagen habe ich höchst professionell und unbemerkt geschummelt, weil ich das Herumtappen im Dunkeln einfach nicht aushielt.
Man kann es also getrost als kleinen Akt der Revolution betrachten, dass ich diesen Trip nach Berlin überhaupt antrat, meine Angst vor weiten Reisen überwand, die mahnenden Einwände ausschlug und mich auf den wahnwitzigen 8 Stunden-hin-und-zurück-Weg machte.
Und dann? Die Überwindung meiner vorsichtigen Gewohnheiten bescherte mir ein unerwartetes Geschenk: Es fühlte sich großartig an! Zu wissen, dass ich dem Schicksal entgegen eilte, es einlud, ihm Tee einschenkte und alles andere NICHT in meinen Händen lag – es war ungeheuer befreiend! Vielleicht würde ich bald ein neues Zuhause in der Hauptstadt haben, ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht wissend, was das für mein Leben bedeuten würde – vielleicht aber auch nicht. Da war sie, die Unvollendete meines Lebens und ich genoss jede Note. Mochten die Sterne darüber entscheiden oder das Universum oder irgendein kleiner, feiner Wink des Schicksals.
Denn seit wann ist Berechenbarkeit, die kleine Schwester der vermeintlichen Sicherheit, eigentlich ein so großes Gut? Wann haben wir aufgehört, den Fluss des Lebens zuzulassen und begonnen, überall Haltegriffe einzubauen? Zum Glück gibt es Menschen, die darauf immer schon gepfiffen haben. Und zur Zeit begegnen sie mir quasi am Laufband in den Büchern, die ihren Weg zu mir finden – ich glaube, einfach, weil mein Kanal für diese Botschaft endlich wieder offen ist.
Rebecca Solnit zum Beispiel beschreibt in ihrem Essay „Woolfs Dunkelheit. Das Unerklärliche bejahen“ die von mir hoch verehrte Virigina Woolf als eine „Entfesselungskünstlerin“, die auf Schubladendenken und feste Identitäten verzichtete, die den Raum des Unbegreifbaren auslotete und die Ungewissheit aushalten, ja sogar regelrecht feiern konnte.
„Woolf singt ein Loblied darauf, die Orientierung zu verlieren – nicht im konkreten, sondern im übertragenen Sinne: offen für das Unbekannte zu sein.“ Sie beharre auf „Vielfalt, Nichtreduzierbarkeit und womöglich auf Geheimnis, wenn Geheimnis die Fähigkeit bedeutet, im Zustand des Werdens zu verharren, über Bestehendes hinauszugehen, nicht eingrenzbar zu sein, mehr zu enthalten.“
Rebecca Solnit, Wenn Männer mir die Welt erklären.
Mich bringen die Worte zum Nachdenken. Wie festgelegt sind unsere Vorstellungen von der Welt und von uns selbst? Wie gut können wir aushalten, wenn etwas nicht eindeutig ist? Denn es ist nicht nur so, wie Veit Lindau es in „Seelengevögelt“ schreibt:
„Durchschaue das Spiel. Dein Leben war nie sicher.“
Dass das Leben sich nicht in die Karten schauen lässt, das ist die eine Seite. Aber wir wir, auch als Gesellschaft damit umgehen, das ist die andere. Wäre es nicht großartig, wenn wir uns gegenseitig für unsere Unsicherheiten, für die Fähigkeit, sie überhaupt zuzulassen, loben könnten? Wenn Unentschiedenheit und Mehrdeutigkeit echte Werte wären, die neben Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit ebenbürtig ihren Platz einnähmen? Und wenn die geschlagenen Haken im Lebenslauf als Ausdruck eines freien Geistes gelten würden und nicht als negativ konnotierte Wankelmütigkeit?
Cheryl Strayed, die in „Der große Trip“ über ihre mehrere tausend Kilometer lange Wanderung auf dem Pacific Crest Trail erzählt, einer Reise, auf der selbst der nächste Tag alles andere, als gewiss ist, schreibt:
„Ich war vom Weg abgekommen, ziellos umhergewandert und verwildert.“ Ich erkannte, „dass ich in der Wildnis, in die mich mein Umherirren geführt hatte, Dinge erfahren hatte, die ich vorher nicht hatte wissen können.“ (…) „Ich machte einfach den Schritt ins Ungewisse und ging weiter, dorthin, wo ich noch nicht gewesen war.“
Nach ihrem Buch liebte ich diese Frau bereits, nach diesem Interview mit Marie Forleo noch mehr. Ich kann es euch nur wärmstens empfehlen und liebe besonders die Passage, in der sie über eine wesentliche Erkenntnis ihres Lebens spricht:
Almost always two things are true at once.
Fast immer sind zwei Dinge gleichzeitig wahr. Für unseren nach Eindeutigkeit lechzenden Verstand ist das ein Affront, aber ihn zu lehren, diesen Zustand auszuhalten, kann unglaublich erleichternd sein und dem Leben eine neue Süße geben. (Wer mehr von diesem bezaubernden Interview sehen möchte, hier geht’s lang:)
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Die Wohnung in Berlin habe ich übrigens nicht genommen. Einige Koordinaten waren einfach nicht passend. Bereut habe ich die Reise aber nicht eine Minute lang. Ich sehe sie eher als Auftakt für einen wilden, weiteren Ritt durch die Unwägbarkeiten des Lebens.
Wieviel Geheimnis lässt du in deinem Leben zu? Ist noch Platz abseits der gewohnten Denkpfade? Kannst du Unsicherheit liebgewinnen?
Fotocredit: unsplash, pexels.
Liebe Moni – deine Worte freuen mich sehr! Schön, dass ich mit diesem Thema zu diesem Zeitpunkt in dein Leben komme :) Liebe Grüße an dich & viel Zuversicht und Neugier auf alles Neue! Kea
4 Comments
Kea, ich könnte dich gerade richtig abknutschen für diesen so authentischen Beitrag!!!<3 Gestern Abend noch lief ich in meiner Wohnung umher und habe wieder gedacht, wie lächerlich konditioniert das alles ist, das DAS nicht sein kann und wie klarer ich mir dagegen bin, dass das, was meine innere Stimme mir zuflüstert das wirkliche Leben ist, ich ihm mehr und mehr folgen möchte. Ich kann es dir so gut nachempfinden! Auch muss ich gerade an das Buch "Weisheit des ungesicherten Lebens" von Alan W. Watts denken, der für mich auch zu deinem Artikel passt. Danke dir für die Buchempfehlungen, die werde ich mir ansehen. :-) Liebste Grüße Lea
Thihi, Hallo liebe Lea, vielen Dank für deinen stürmischen Kommentar, ich freu mich immer sehr, wenn ich mit meinen Gedanken Menschen aus dem Herzen sprechen kann! ♥♥♥
Deine Buchempfehlung klingt ganz nach meinem Geschmack, zumal ich bereits ein kleines Büchlein von ihm habe, dass sich mit Zen beschäftigt und das mich sehr beeindruckt hat. Ich kann der Stimme, die da in dir flüstert, nur einen ermutigenden Schubs geben, es ist großartig, dass du sie hören kannst – dann wird es gar nicht mehr lange dauern, bis du ihr mehr und mehr folgen wirst, da bin ich ganz sicher! Schön, dass wir uns auf diesem Weg begleiten! Liebste Grüße zu dir! Kea