Oh, du wunderbar-schreckliches Internet. Du Schlusspfiff der Deutungshoheit klassischer Medien, du Abschied vom publizistischen Nadelöhr und gleichsam du Büchse der Pandora, du Geist, den wir riefen und der neben aller Freiheit auch seine finstersten Seiten mitbrachte, ohne dass wir ein Handbuch dazu gelesen hätten. Das Netz, allen voran die sozialen Medien, sind eine großartige Chance – und beinhalten eine große Verantwortung.
Bestimmt 20 Artikel, Videos und unzählige Kommentare zu den Vorfällen in Chemnitz habe ich heute morgen noch vor dem Frühstück im Netz gesichtet. Links, rechts, mittig, selbst die Kommentare auf der Facebook-Seite von „Pro Chemnitz“ habe ich mir zu Gemüte geführt, wenngleich das nur sehr kurz und sehr schwer zu ertragen war. Ich habe mindestens zehn verschiedene Begriffe gefunden, die die Protestgruppen von 6000 Menschen zu beschreiben versuchten, die am Montag in Chemnitz auf der Straße war – wer lief da Seite an Seite mit gewaltbereiten Neonazis? Tatsache ist: wer genau es war, ist nicht einmal entscheidend. Sie taten es. Und das ist ein Problem.
Die, die mit den Nazis marschieren, machen sich zu Steigbügelhaltern
Im Deutschlandfunk Kultur gibt es dieses zehnminütige Gespräch von Anke Schäfer mit Ursula Weidenfeld und Torsten Kleditzsch über die Mitte der Gesellschaft zu lesen und zu hören. Kleditzsch, Chefredakteuer der „Freien Presse“ konstatiert, dass die „Anti-Asylbewegung“ in Sachsen „eine viel offenere Verbindung zu offen rechtsextremen Gruppen“ habe, als er das in anderen Teilen der Republik beobachte. Berührungsängste, gemeinsam mit offensichtlich Rechtsextremen zu demonstrieren, gäbe es kaum. Die Journalistin Weidenfeld fordert deshalb ein klares Bekenntnis von den BürgerInnen, die sich die Frage stellen müssten:
„Was ist mir dieser Staat wert und wie sehr bin ich bereit, auch das Gesicht zu zeigen und zu sagen, das geht nicht und das lasse ich nicht zu.“
Die gesellschaftliche Mitte muss klarmachen, dass man sich, ganz egal ob es inhaltliche Schnittmengen gibt oder nicht, niemals mit den Rechten gemein machen darf. Dass das gesellschaftlich nicht akzeptiert wird, dass es nicht als „nicht so schlimm“ bagatellisiert oder gar salonfähig gemacht werden darf.
Denn wer neben Neonazis demonstriert, der „enabled“, der ermöglicht es, dass Rechtsextremismus erstarkt, dass sich seine AnhängerInnen mächtiger fühlen, als sie sind. Sich mit ihnen Schulter an Schulter auf der Straße sehen zu lassen, verharmlost ihre menschenverachtenden und gefährlichen Parolen.
Publizierte Inhalte ohne Qualitätssicherung – die Kehrseiten des Netzes
Unter den Beiträgen der großen Nachrichtenseiten hat das Wort „Lügenpresse“ wieder oder immer noch Hochkonjunktur, während eindeutig rechtsgerichtete Videos auf Youtube als neutrale Berichterstattung empfunden werden, als das Sprachrohr des „kleinen Mannes“ – dieses Vertrauen ist gefährlich. Denn natürlich sind diese Videos alles andere als harmlos, sondern extrem braun gefärbtes und sehr bewusst platziertes Material. Auf journalistische Sorgfaltspflicht muss man hier nicht hoffen, aber schaut man hier in die Kommentare, bestätigt sich, dass danach auch kaum jemand fragt.
Als ich meine Masterarbeit über den Einfluss sozialer Medien auf Bürgerproteste am Beispiel Stuttgart 21 schrieb, war bereits offensichtlich, dass das Thema Netzaktivismus und Demokratie eines ist, das uns noch stark beschäftigen wird. Denn genau dieses Phänomen von BürgerInnen, die den klassischen Medien nicht mehr vertrauen, dafür aber blind auf die Inhalte von Youtube oder Facebook setzen, führt zur Verbreitung von Fake News und ermöglicht eine gradweise Erhitzung der Diskussion, die dazu führt, dass sich Hass und Hetze immer öfter ungehindert Bahn brechen.
Kleditzschs Rat an JournalistInnen in diesem Beitrag über den Kampf gegen Fake News: „Richtigkeit vor Schnelligkeit. Immer zwei Quellen haben.“ Schneller sind die, die auf diese Qualitätssicherungen verzichten – und sie erzielen so bei vielen online-Nutzern oft den Erstkontakt mit einem Thema, ungeachtet der Tatsache, ob es sich hier um gesicherte Meldungen oder mutwillig gestreute Fehlinformationen handelt.
Die gesellschaftliche Mitte – im Netz viel zu still
Wann immer ich mich auf Instagram oder meinem Blog politisch äußere, ist ein Phänomen zu beobachten, das mich zutiefst beunruhigt: ich erhalte Nachrichten von LeserInnen, die mir schreiben, wie sehr sie sich freuen, dass ich über das Thema schreibe/spreche, aber dass sie sich selbst nicht trauen, öffentlich etwas dazu zu sagen. Sie haben Angst, für Rückfragen nicht gut genug gerüstet zu sein, befürchten, als inkompetent verlacht zu werden oder sie haben schlicht zu viel Respekt vor denen, die im Netz pöbeln und hetzen und deren Wut sie nicht auf sich ziehen wollen. Also ducken sie sich weg.
Das Problem bei der Sache ist: wenn wir uns anschauen, was auf den Straßen und in den Köpfen gerade passiert, dann wird aus der Angst, etwas Falsches zu tun, in diesem Moment die Angst, das Richtige zu tun. Denn eines ist mit Sicherheit falsch: Schweigen. Selbst ein Beitrag, der noch Verbesserungspotential hat, ist besser, als kein Beitrag. Gemeinsam kann man lernen und wachsen, aber wenn wir den Mund nicht aufmachen, schlagen wir diese Chance aus.
Kaufen wir uns alle langsam ins Koma?
Nachdem wir das geklärt haben, gibt es eigentlich überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund mehr, warum sich so viele, öffentlich sichtbare Menschen mit hoher Reichweite kaum oder gar nicht zu den politischen Ereignissen nicht äußern. Warum sie die Vorzüge dieser kleinen Insel der Freiheit und Glückseligkeit genießen, ohne sich dafür einzusetzen, dass diese Privilegien allen Menschen zur Verfügung stehen und nicht nur denen, die durch den Zufall ihres Geburtsortes damit gesegnet sind. Es ist immer wieder traurig, zu beobachten, wie interaktiv, wie wach und bereit, Zeit und Energie einzusetzen die Menschen sind, wenn es um Gewinnspiele, Rabattcodes und Shopping-Tipps geht. Wieviele unzählige Fragen eingehen, wenn man ein Wimpernserum empfiehlt und wie wenige reagieren, wenn man über Politik und Gesellschaft spricht. Das ist die traurige Bilanz einer Gesellschaft, die die kapitalistischen Grundwerte in ihr Privatleben übertragen hat, die sich nur darum kümmert, dass es für sie selbst immer mehr gibt, die auf Kosten anderer lebt und das ausblenden kann, eben weil sie es kann. Und die sich offenbar auch nicht darüber bewusst ist, dass sie so unendlich privilegiert ist, denn sie scheint dermaßen träge zu sein, dass sie nicht einmal dann reagiert, wenn die Freiheit, die sie selbst so ahnungslos genießt, aus rechter Ecke in Frage gestellt wird. Es ist ein Luxus, sich derart ausschweifend um die Länge der eigenen Wimpern Gedanken machen zu können, es ist ein Luxus, Stunden beim online-Shopping oder im Einkaufszentren zu verbringen. Und es ist ein Jammer, dass nebenbei angeblich keine Zeit bleibt, um sich gesellschaftspolitisch zu engagieren – digital, analog, wie auch immer.
Vor einigen Wochen habe ich eine Insta-Story über die Live-Übertragung einer Bundestagsdebatte hochgeladen. Ausschnitte verschiedener RednerInnen, in dem Bemühen, einige Kernpunkte anzuteasern und den ZuschauerInnen einen Eindruck zu vermitteln, wie diese Debatten laufen. In einer Umfrage erfasste ich außerdem, dass a) die meisten sich noch nie eine solche Debatte angesehen hatten und b) über 90% sich weitere Stories dieser Art wünschten. Da blieb dann aber auch die Frage in mir zurück, warum in der Vergangenheit nie die Motivation ausgereicht hat, sich selbst einmal dazu zu schalten. Es mangelt oft nicht wirklich an Zeit und Energie, es mangelt an der Einsicht der Notwendigkeit, sich in diesen Themenfeldern zu bilden. Ich finde es auch anstrengend, mich mit komplexen Fragen zu beschäftigen – aber deshalb einfach aufhören? Informiert und engagiert zu sein, das ist doch irgendwie auch unsere Pflicht? Demokratie ist doch keine Einbahnstraße, in der wir einfach alles geschenkt bekommen, und diese Freiheiten und Möglichkeiten mit einer jährlichen Steuerzahlung ausgleichen. Das wäre nur ein Ablasshandel, mit dem man sich politische Apathie erkauft. Demokratie ist kein Selbstläufer, kein abstraktes Spiel von „denen da oben“ – WIR gestalten sie mit.
Gemeinsam lernen und sich gegenseitig bestärken
Was wir aber in meinen Augen auch brauchen, und ich werde nicht müde, es zu sagen, ist eine neue Fehlerkultur. Damit Menschen, die sich fürchten, in den öffentlichen Ring zu steigen, dort auch auf ein Klima treffen, in dem sie dazulernen dürfen.
Genauso unerlässlich: eine Community, das Gefühl, gemeinsam dem rechten Gedankengut entgegenzutreten. Das ist es ja auch, was so vielen MitläuferInnen auf den rechten Demos und im Netz das Gefühl von Stärke gibt: sie verstecken sich im Rudel, fühlen sich stark in der Masse und walzen die schweigende Mehrheit nieder. Denn die Menschen, die Hass und Hetze ablehnen, sind in der Mehrzahl. Zeit wird es, dass sich das im Netz eben auch abbildet.
In meiner Buch-Besprechnung von Carolin Emckes „Gegen den Hass“ habe ich im November 2016 folgendes Zitat gepostet, mit dem ich diesen Post beschließen möchte, der nichts von seiner Aktualität verloren hat:
„ Vielleicht ist der wichtigste Gestus gegen den Hass: sich nicht vereinzeln zu lassen. Sich nicht in die Stille, ins Private, ins Geschützte des eigenen Refugiums oder Milieus drängen zu lassen.“
Also macht euch bemerkbar. Seid sicht- und hörbar. Vernetzt euch mit anderen Accounts. Hört zu, redet mit, nehmt das nicht einfach alles hin. Das hier wird sicher nicht mein letzter Beitrag zur apolitischen Blogosphäre sein. Auch wenn ich mir vorkomme, als würde ich gegen Windmühlen kämpfen – sein lassen kann ich es nicht.